Vergessen (Teil II)

Publiziert am 10.02.2025
Lesedauer: ~ min

Auf einem kalten, unebenen Boden erwachte er. Etwas spitzes stach in seine Seite. Ein fahler Verwesungsgeruch lag in der Luft.
Darion zwang seine Muskeln zur Bewegung, um dem Stechen entgegenzuwirken und der Schmerz verstummte. Gut. Keine Verletzung. Er war so schwach und die Konzentration fiel ihm immer noch schwer. Was war gerade mit ihm passiert? Er erinnerte sich verschwommen an eine Präsenz, die ihn erweckt hatte. War sie bei ihm?
Als seine Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten, erfasste er die Wände der höhlenartigen Kammer um sich herum. Die Wände waren organisch und rau, wie die Rinde eines alten Baumes. Seine Augen schafften es nicht, sich zu fokussieren und sein Kopf fühlte sich an, als würde eine Axt in ihm stecken.
Mit einiger Mühe hievte er sich auf alle Viere. Etwas knackte unter seinen Händen. Panisch fuhr er zurück und sah die ausgetrocknete Gestalt die unter ihm lag. Was ihm zuvor in die Seite stoch, war der Ellenbogen einer mumifizierten Leiche gewesen. Sie lag auf dem Bauch, einer ihrer Arme nach vorn gestreckt. Ihr anderer Arm war angewinkelt mit der Hand unter ihrem Körper.

War diese Person beim Kriechen gestorben?

Ihr Kopf war in den Nacken gelegt, ihre leeren Augenhöhlen starrten voran. Ihre nach vorn ausgestreckte Hand sah so aus, als würde sie versuchen, nach etwas zu greifen. Doch nach was, war nicht ersichtlich. Mit einem Schaudern erkannte Darion, dass die Gestalt nicht allein war. Neben ihr lagen andere Leichen, die offenbar beim Versuch, nach etwas Unerfindlichem zu greifen, gestorben waren. Sie bedeckten den ganzen Boden — nein, das stimmte nicht. Unter der Leiche befand sich kein Boden, sondern weitere Leichen. Wie die Schichten einer Rinde stapelten sie sich aufeinander und bildeten so den Boden unter ihm. Und ebenso die Wände und die Decke der Kammer. Die rindenartigen Musterungen, die er zuerst gesehen hatte, waren in Wirklichkeit unzählige gestapelte, ausgetrocknete Körper. Sie alle starrten in die gleiche Richtung: Zum Ausgang dieser Kammer.

Einige Minuten vergingen, bis sich Darion von diesem Anblick erholt hatte und seine aufgestiegene Übelkeit bezwang. Als er sich wieder voll im Griff hatte, streckte er seine Hand aus und fokussierte seine Gedanken, um ein Licht zu erschaffen. Nichts geschah. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Umgebung, um die magischen Strömungen dieses Ortes zu spüren. Wieder nichts. Dieser Ort war offenbar so tot wie die Leichen, aus denen er besteht.

An was für einem Ort war er hier nur gelandet?
Auf welcher Welt war er?
War dies, was von Sigil nach seiner Konfrontation mit der Göttin übrig geblieben war?

Nun wieder in der Lage, klar zu denken, widmete er sich den Leichen. Er erkannte Erwachsene und Kinder verschiedenster Spezies. Manche in feiner Kleidung, andere in zerschlissenen Lumpen, wiederum andere in Rüstungen oder Kleidung einer Art, wie er sie noch nie gesehen hatte. Tote aus verschiedenen Zeitperioden und aus verschiedenen Welten machten diesen Ort zu der schauderhaften Höhle, die sie war. Ohne Skrupel durchsuchte er die Taschen, doch fand nichts viel Nützliches. Mehr als ihre Kleidung scheinen sie nicht hierher mitgebracht zu haben. Aber so ging es ihm auch. Er trug selbst nur das weite, blaue Gewand eines Diplomaten von Sigil. Sein Stab, seine Taschen und jegliche Rationen waren fort.
Vielleicht war diese Präsenz, die er vorhin gespürt hatte, hier gewesen und hatte alles an sich genommen?
Er wusste nicht, ob ihm dieser Gedanke Unbehagen oder Hoffnung brachte.
Als er sicher war, dass er hier nichts mehr finden konnte, folgte er dem Blick der Leichen und verließ die Kammer.

Mit vorsichtigem Schritt wanderte er durch ein Labyrinth aus Leichen. Mit jedem Schritt knackten die Knochen, die er mit seinen Füßen zertrat, wie die Äste eines herbstlichen Waldes. Er konnte nicht anders, als sich schlecht dafür zu fühlen. Dieser Ort glich einem Labyrinth und er folgte stets dem Blick der Mumien, dem Fundament dieser Welt, in der Hoffnung, irgendwann einen Ausweg zu finden. Der Aufbau dieses Ortes war bizarr. Verschiedene Gänge wuchsen wie strömende Flüsse zusammen und ebenso wie Flüsse schienen sie sich nur selten zu teilen. All die Leichen, die Darion umgaben, hatten ein gemeinsames Ziel und da er ohne Magie oder sonstige Hilfsmittel machtlos war, wurde ihr Ziel zu dem seinen. Wenn die Wege wirklich alle zusammenführten, sollte es ein Ende geben. Einen finalen Knoten, an dem sich alle Wege treffen. An diesem Ort lag seine Hoffnung.

Und so betrat er nach einer Ewigkeit der Wanderung die gigantische Kammer im Zentrum des Labyrinths. Ein kleines blaues Licht schwebte schwach in der Entfernung. Offenbar ging es von einer Gestalt aus, welche einsam durch eine tiefere Ebene der Kammer wanderte und die Leichen untersuchte. War dies die Präsenz, die er gespürt hatte? Er war sich unsicher und entschied sich zu einer vorsichtigen Herangehensweise. Sorgfältigen Schrittes schlich er in die Kammer hinein, hinab zum Licht. Es ging stetig bergab.

Die Wände und die Decke verschwanden in der Dunkelheit. Tiefer und tiefer kletterte er, stolperte unbeholfen über die Leichen von Unbekannten, immer weiter in Richtung des kleinen Lichts. Das Licht war kalt und bläulich, wie die Monde Lazulias unter den er einst aufwuchs. Er kam der Gestalt näher und als er ihre Silhouette erblickte, war er erleichtert und vergaß jegliche Vorsicht. Er rief ihren Namen, den Namen des Lichts in ewiger Nacht, den Namen seiner einstigen Gefährtin: »Lia!«
Seine Worte hallten durch die Kammer. Die Gestalt drehte sich zu ihm um, schien ihn zu erkennen und eilte erfreut in seine Richtung. Ihre Stimme hallte ihm entgegen: »Delwin?«

Und dann standen sie voreinander und hielten beide inne. Im Licht einer kleinen blauen Flamme erkannten beide ihren jeweiligen Irrtum. Die Frau, die vor Darion stand, war nicht seine einstige Gefährtin. Sie war keine Elfe, keine Bogenschützin und kein Kind des Mondes. Sie war eine Frau mit Widderhörnern und wallendem braunen Haar, ihre Kleidung war schlicht und knapp bemessen, jeder freie Zentimeter ihrer Haut übersät mit Tattoos magischer Runen. Auf ihrem Rücken trug sie eine gigantische Schriftrolle. Sie blickte ihn enttäuscht an. Abschätzend. Die Frau vor ihm war ganz und gar nicht wie Lia. Wie konnte er sich so geirrt haben?

»Hm. Ich habe euch wohl verwechselt. Ich dachte, ihr wärt ein alter Freund von mir, ein unnützer Barde.«, ihr Hohn schnitt förmlich die Luft. Darion fragte sich, ob ihre Beziehung zu dem Barden wirklich so freundschaftlich war. Er bedachte seine Worte sorgfältig, bevor er antwortete.
»So wie es der Zufall will, erging es mir ähnlich. Ich dachte, ihr wärt eine alte Freundin, eine Jägerin und ein Kind der Monde«
Darion bemühte sich eines charmanten Lächelns. Dies schien die Fremde wenig zu kümmern.
»Eine Jägerin? Ha. Jagen kann ich wohl. Bezeichnet ihr mich jedoch nochmal als Kind der Monde, setze ich euch in Brand, verstanden? Meine Gefährten und ich haben schon eine dieser Schlangen getötet. Und sobald ich hier raus bin, folgt die Zweite.«
Ihr Lächeln war etwas wild und voller Stolz. Sollten ihre Worte ihm etwas sagen?
Von was für Schlangen sprach die Fremde?
Er überlegte sie danach zu fragen, doch eigentlich war es ihm nicht wichtig. Offensichtlich wollte die Fremde hier raus, genau wie er. In diesem Moment war ihm jede Verbündete willkommen, egal mit wem oder was sie sich anlegte. Über ihre Vergangenheit konnten sie reden, sobald sie aus diesem Labyrinth entkommen waren.
»Mein Name ist Darion Alberic von Ibenholdt-Divorg, Professor an der Akademie des Lykos in den Feldern arkaner Kunde, Kristallmagie und der Geschichte Lazulias. Ich bin — war ein Diplomat in der Stadt der Türen, Sigil. Es freut mich, euch kennenzulernen.«, er legte seine Hand auf seine Brust und neigte den Kopf, eine kleine universale Geste des Respekts, die er bei seiner Arbeit in Sigil aufgeschnappt hatte.
»Nennt mich einfach Nizula.«, antwortete sie, ohne den geringsten Hauch von Freundlichkeit. »Arkane Kunst, sagt ihr? Das heißt, ihr kennt euch mit Magie aus?«, ihre Skepsis war deutlich spürbar.
»Ja, könnte man so sagen. Ich bin bewandert in den Feldern Evokation, Verzauberung, —«
»Was sagt ihr hierzu?«, unterbrach sie ihn forsch, krempelte ihren Ärmel hoch und zeigte ihm die Runen-Tattoos auf ihrem linken Arm. Er runzelte die Stirn, als er mit etwas Frust die Runen genauer betrachtete. Es war lange her, dass er sich mit solch kruden Runen beschäftigt hatte. Doch neben ihren Runen fiel ihm noch etwas anderes an ihren Armen auf. Ihr rechter Zeigefinger war versilbert und strahlte vor Magie. Doch erstmal was anderes. Er riss sich von seinen Gedanken los und konzentrierte sich auf die Runen.
»Das ist Runenmagie, die Magie der Riesen, nicht wahr?«
Sie zeigte keine Reaktion auf ihrem Gesicht, also fuhr er fort.
»Um ihre Magie zu entfalten, sind die Runen offenbar mit einer magisch potenten Flüssigkeit aufgetragen worden. Diese besteht wahrscheinlich sowohl aus potenten, zermahlenen, organischen Substanzen sowie aus Edelsteinstaub. Dies hier ist eine einfache Rune des Feuers, verbunden mit einem Kanalisator und einem Geschwindigkeitsmodifikator — ein Feuerpfeil, richtig? Und das hier ist eine Rune der Leere, mit einem Essenzsiphon und einem weiteren Kanalisator – ein Absorbtionszauber. Saubere Arbeit, wo habt ihr das gelernt? Bei den Runenschmieden auf Ys?«
Er verbalisierte seine Gedanken aufrichtig, deutlich und respektvoll. Wer auch immer diese Runen aufgetragen hatte, hatte einiges an Talent.
»Ihr liegt richtig in euren Annahmen. Die Paste besteht aus Himmelskraut und Smaragdstaub. Doch ihr habt die Säure vergessen. Sie zersetzt die anderen Zutaten und hilft der Paste dabei, sich in die Haut zu brennen. Der Odem eines Kupferdrachen eignet ganz gut dafür. Hab mir das übrigens selbst beigebracht. Diese Runen basieren auf Inschriften aus den alten Ruinen meines Heimatdorfes. Die anderen an meinem Rücken — «, antwortete sie zögerlich, hielt inne und zog ihren Arm zurück.

Darion war von diesen Aussagen überrascht. Eine wilde Magierin, die sich selbst die Magie der Riesen beibringt und sie sich dann selbst mit ihren experimentellen Runen tätowiert? Und das mit dem Odem eines Kupferdrachen? Sie muss ein wahnsinniges Talent besitzen und mehr als nur ein bisschen von ihrem eigenen Wissen überzeugt sein. Oder sie war wahnsinnig. Wahrscheinlich eine Mischung aus allem.
Bevor er weitere Fragen stellen konnte, fuhr sie fort: »Ich möchte so schnell wie möglich einen Weg hier raus finden. Lasst uns unser Wissen teilen. Was ist euch bisher widerfahren?«
»Ich bin in einer Kammer aufgewacht, weiter außen in diesem Labyrinth. Ich habe sie untersucht, jedoch nichts von Belang gefunden... Schließlich bin ich hier gelandet. Vor diesem Labyrinth war ich — «, Darion stockte. Unsicher, wie er die Erfahrung im Nichts beschreiben sollte. Einige Sekunden der betretenen Stille vergingen und sie seufzte.
»Ihr habt euch geweigert, vergessen zu werden, stimmt’s?«, fragte sie. Sie zitterte etwas. Das Thema war ihr sichtlich unangenehm. Mit gesenkter Stimme fuhr sie fort: »So erging es mir auch. Ich hatte das Gefühl, dass jemand —«, ein Schlucken war zu hören, »— jemand Wichtiges, mich vergessen würde, wenn ich nichts unternahm. Das konnte ich nicht zulassen. Sie wird mich nicht vergessen… Es war, als würden meine Erinnerungen lebendig werden, als dieser Gedanke in mir aufkam. Es fühlte sich alles so real und gleichzeitig fremd an. Doch offenbar gab der Gedanke mir die Kraft, mich selbst aus der Dunkelheit zu befreien und schließlich bin ich wie ihr an diesem Ort aufgewacht. Ich weiß selbst nicht, wie lang das her ist. Die Zeit verhält sich seltsam an diesem Ort.“
Als sie sprach, kehrte nach und nach die Entschlossenheit in ihre Stimme zurück und Darion nickte bestätigend.
»Das hört sich alles sehr bekannt an.«
Darion blickte hinauf zu der kleinen, schwebenden blauen Flamme und fragte das, was ihn schon seit einer Weile auf der Zunge lag.
»Seit ich hier aufgewacht bin, konnte ich keine Magie benutzen. Wie kommt ihr zu dieser Flamme? Funktionieren eure Runen etwa?«, sein Blick fiel neugierig auf ihren versilberten Zeigefinger.
Sie schüttelte den Kopf und erklärte: »Nein, meine Runen sind hier machtlos. Ich fand die Flamme in einer Kammer am Rande des Labyrinths. Ich untersuchte eine Leiche mit einem metallenen Kranz auf der Stirn. Sie saß im Zentrum einer kleinen Kammer auf einem steinernen Sitz. Als ich die Leiche berührte, erschien die blaue Flamme und begann mir zu folgen.«
»Ein metallener Kranz und ein steinerner Sitz? Eine Krone und ein Thron?«
»Kann sein? Ich kenn mich mit solchen Dingen nicht wirklich gut aus. Die Leiche wirkte auf jeden Fall besonders. Daher habe ich sie genauer angeschaut.«
Nizula verdeckte ihren versilberten Finger, als sie sprach und die blaue Flamme umkreiste die beiden Magier und wippte stetig auf und ab. Ihr Licht beleuchtete die Leichen am Boden, deren leblosen Gesichter weiterhin in eine gemeinsame Richtung blickten. Im Vergleich zum Gefälle der riesigen Kammer, in der sie sich gerade befanden, führte der Blick der Leichen in einem nahezu rechten Winkel an der Steigung vorbei. Eine Idee begann sich in Darions Gedanken zu formen und er fragte Nizula: »Habt ihr diese Kammer bereits durchquert?«.
Als sie nickte, fuhr er fort: »Gibt es am anderen Ende der Kammer eine Steigung?«
Sie nickte.
»Der Boden der Kammer ist ein einzelner großer Krater. Die Decke der Kammer ist ebenso gewölbt mit einem schmalen Loch in ihrer Mitte. Die Flamme hat es mir beleuchtet, als ich das erste Mal am tiefsten Punkt der Kammer ankam. Dort, im Zentrum der Kammer, befindet sich auch eine steinerne magische Plattform. Eines der wenigen Dinge, die in diesem Labyrinth nicht aus Leichen bestehen. Ich vermute, sie ist mit einer Art Levitationszauber versehen. Doch wie auch meine Runen, ist ihr Zauber machtlos. Ich bin eigentlich gerade auf der Suche nach irgendetwas, was mir helfen kann, sie zu reaktivieren. Habt ihr eine Idee? Vielleicht finden wir noch weitere Flammen wie diese?«
»Und der Strom der Leichen führt nach und nach immer weiter ins Zentrum der Kammer, zu dieser Plattform, richtig?«
Sie nickte und das Bild in Darions Gedanken wurde klarer. Diese Kammer — nein, dieses ganze Labyrinth ähnelte einem Trichter, nur dass anstelle von Wasser offenbar Leichen diesen Trichter hinabfließen sollten. Der Krater, an dessen Rand sie gerade standen, war nichts weiter als der große Strudel in der Mitte des Trichters. Und wenn die Analogie zu dem Trichter stimmte, gab es vielleicht in der Mitte des Strudels einen Ausgang.
Irgendetwas hatte jedoch dafür gesorgt, dass der Fluss erstarrte. Er vermutete das, was auch immer es war, auch für das Verschwinden der Magie dieses Ortes verantwortlich war.
Motivation und Neugierde packte ihn und er lächelte. Das war ein Rätsel nach seinem Geschmack. Er begann den Abstieg, stolperte vorsichtig den Hang hinab und rief zu Nizula: »Kommt mit! Zeigt mir diese Plattform! Vielleicht finden wir zusammen eine Lösung.«

Bei der Plattform angekommen, erkannte Darion sofort die meisten Details der magischen Verzauberung. Nizula hatte ihm auf dem Weg bereits eine detaillierte Beschreibung gegeben, sodass er sich sofort in den alten Runen zurechtfand. Die Plattform bestand aus schwarzem Gestein. Die versilberten Runen in ihrer Mitte stellten, wie Nizula es bereits vermutete, einen Levitationszauber dar. Würde diese Plattform funktionieren und zu dem Loch über ihnen schweben, wäre sie tatsächlich ein Ausweg. Für einige Minuten untersuchte Darion die Plattform und Nizula setzte sich an ihre Kante. Er wusste genau wonach er suchte: Für einen Zauber dieser Stärke musste irgendwo ein Teil der Verzauberung die magische Essenz aus dem Äther der Umgebung ziehen und mit etwas Glück – plötzlich fand er eine schmale Essenzleitung, die in einer kleinen Einbuchtung in der Mitte der Plattform abrupt endete. Er winkte die Flamme zu sich herab und als sie die Einbuchtung beleuchtete, lachte Darion vor Erleichterung auf. Er grinste Nizula an und rief ihr zu: »Die Erbauer dieses Ortes waren zwar äußerst fähige Magier, aber perfekt waren ihre Werke nicht. Meine Studenten würden für so einen Fehler Notenabzug bekommen.«
Sie runzelte die Stirn, irritiert von seinem Eifer: »Worauf wollt ihr hinaus?«
»Ich habe einen Weg gefunden, die Plattform zu reaktivieren.«
Sie sprang überrascht auf und trat neben ihn. Sie fragte: »Und worauf warten wir?«
»Auf mehr magische Essenz.«
Sein Blick kehrte zu der kleinen blauen Flamme zurück, die über ihnen schwebte.

In Gesellschaft einer anderen Person verging die Reisezeit wie im Flug. Darion erzählte Nizula gerade von einer Reise durch einen magischen Wald, die mit dem Tod einer verfluchten Königin endete, als sie eine weitere Thronkammer erreichten. In ihrer Mitte saß die mumifizierte Leiche einer Königin. Nizula trat vor, blickte zu Darion und streckte ihm ihre linke Hand aus. Er blickte sie fragend an, zögerte kurz und ergriff die Hand schließlich. Sie streckte ihren versilberten, rechten Zeigefinger aus und berührte mit der schimmernden Fingerspitze die Hand der Königin.
Ohne Vorwarnung verschwand die Umgebung plötzlich und Darion hatte das Gefühl zu fallen. Doch so schnell das Gefühl auch kam, so schnell war es auch wieder vorbei.

Darion und Nizula fanden sich in einem opulenten Thronsaal wieder. Eine Königin saß vor ihnen auf einem azurblauen Thron. Eine Kuppel aus Buntglas hüllte den ganzen Thronsaal in strahlend helles Licht aus allen Farben des Regenbogens. Die Königin trug ein aufwändiges Kleid aus grünem und blauem Stoff, welches sich wie die Wellen des Ozeans in einem stetigen Rhythmus zu bewegen schien.
Darion war geschockt und starrte Nizula fragend an. Sie zeigte ihm ihren versilberten Zeigefinger und erklärte: »Es ist eine Gabe, die mir anvertraut wurde. Sie erlaubt mir, in Erinnerungen und Träume einzutauchen.«
Darion verstand, was sie damit meinte. An der Akademie des Lykos hatte er mit einem Professor der Gith über die Konzepte der Erinnerungen und der Träume diskutiert, um selbst die Geschehnisse am Ende der Schlacht um Lazulia zu verstehen. Wie war das noch gleich? Erinnerungen füttern den Traum, der Traum erschafft die Realität, welche wiederum Erinnerungen erzeugt? Irgendwie sowas. Götter spielen darin auch eine irgendeine Rolle. Stundenlang hatten die beiden Professoren versucht, diese Konzepte mit Darions Sicht auf Äther und Essenz in Einklang zu bringen. Am Ende waren sie für Darion aber doch etwas zu esoterisch.
Nun stand er jedoch in der Erinnerung einer längst verstorbenen Königin und Nizula schien das wenig zu überraschen. Aus den Schatten der Säulen beobachteten sie wie ein Jüngling in einem strahlend weißem Gewand, weißem Haar und einem einzelnen weißen Horn an der rechten Seite seines Kopfes auf die Königin zutrat. Er blieb vor ihr stehen und die Königin sprach ihn in einer fremden Sprache an. Ihre Stimme wirkte bestimmt, edel und selbstsicher, doch die Königin stand auf und ging vor dem Jüngling auf die Knie. Er legte ihr die Hand auf die Stirn und eine kleine blaue Rune wurde sichtbar. Er entfernte seine Hand und sprach nur ein einziges Wort. Dann verließ er den Thronsaal wieder. Die Königin blieb auf ihren Knien und schluchzte. Ihre Tränen fielen zu Boden, sammelten sich in den Rissen der Bodenplatten und strömten hinaus aus dem Palast. Draußen hörten sie das Krachen der Wellen. Die Königin wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, setzte sich wieder auf den Thron und blickte lächelnd in Darions und Nizulas Richtung. In einer ihnen verständlichen Sprache sagte sie: »Geehrte Reisende aus den Hallen der Verlorenen. Ich bin so froh euch hier zu treffen. Der Strom ist schon zu lang versiegt und ich hatte befürchtet, ich würde meinen König nie wieder sehen. Lasst mich euch durch die Hallen der Verlorenen begleiten. Ich werde euch helfen, die Hallen wieder zu neuem Leben zu erwecken.«
Sie hatten keine Zeit, der Königin Fragen zu stellen, denn als sie ihre Worte vollendete, wurden die beiden von einer unsichtbaren Macht zurück in das Labyrinth gezogen. Darion fühlte sich wie eine Puppe, die an Fäden tanzte. In wessen Spiel waren sie diesmal zu Figuren geworden?
Darion und Nizula beobachteten stumm, wie sich eine kleine Kugel aus Wasser von der Leiche der Königin absonderte und neben der blauen Flamme zu schweben begann. Daraus schien Nizula eine Schlussfolgerung zu ziehen und sprach: »Ich habe so etwas schon einmal gesehen. Wenn es das ist, was ich denke, fehlen uns noch die Erinnerungen von vier weiteren Herrschern. Sie symbolisieren verschiedene Elemente. Lass mir dir dazu auf dem Weg eine Geschichte aus meinen Abenteuern erzählen.«

Sie wanderten lange Zeit durch das Labyrinth. Erzählten einander Geschichten und
sammelten weiter die Elementargeister von alten Herrschern. Kein Herrscherr gleichte dem Anderen. Einer war ein Jüngling, als sie eintrafen. Nach Darions Einschätzung war er kaum mehr als 10 Jahre alt. Er saß auf einem Thron aus Knochen. Am Ende des Treffens war der Jüngling ein alter Mann geworden, der kaum mehr gehen konnte.
In einer anderen Erinnerung saß eine ältere Königin auf einem Obsidianthron mitten in einer Geode aus funkelndem Kristall. Wieder ein anderer saß auf einem schlichten hölzernen Stuhl auf dem Gipfel eines gigantischen Berges. Ohne Wände dem Willen der Stürme ausgesetzt. Und die letzte war eine Königin in einer endlosen Halle, die sich auffächerte wie ein Kaleidoskop. Bei ihr hatten sie das Gefühl, mit tausenden Königinnen gleichzeitig zu sprechen. Die Königin sprach aus allen Richtungen mit ihnen und dabei hatte keines ihrer Ebenbilder die gleiche Mine. Am Ende faltete die Halle sich in sich selbst zusammen, bis sie nur ein kleiner Punkt war.
Doch auch wenn sich keiner der Herrscher glich, so trafen sie alle den Jüngling in Weiß und bekamen alle das Geschenk einer Rune von ihm.

Als Darion und Nizula schließlich wieder die Plattform in der Mitte des Labyrinths erreichten, folgte ihnen eine blaue Flamme, eine transparente Wasserkugel, eine kleine Sturmwolke, ein Meteorit, ein seltsames abstraktes Wesen, dessen Oberfläche immer vom jeweiligen Ort abhängig zu sein schien und nur bei Bewegung an Leben gewann, und ein Wesen aus unendlichen Dreiecken, die sich dauerhaft ineinander verschachtelten. Umgeben von diesem Zirkus aus Elementargeistern stand Nizula auf der Plattform und beobachtete Darions Tüfteleien an der schwarzen Steinplattform. Er erklärte etwas über Kristalle, die als Essenzspeicher dienen und erläuterte ihr die Wichtigkeit der strategischen Platzierung dieser Kristalle in einem Mechanismus. Als er schließlich mit einer abenteuerlichen Feile, die eigentlich ein zweckentfremdeter Teil einer Mumienrüstung war, einen kleinen Teil der Einbuchtung auf der Plattform vergrößert hatte, steckte er probend einen Zeigefinger in die Lücke, grinste zu Nizula und den Elementargeistern hinauf und fragte: »Es ist soweit. Werte Wächter der Elemente, wärt ihr so nett mir einen Teil eurer Essenz zu geben, damit ich den Mechanismus in Gang bringen kann?«
Nizula verstand nicht, was er genau von ihr wollte, doch die Elementargeister schienen ihn zu verstehen. Sie sammelten sich um ihn herum und er schloss die Augen. Die Flamme flackerte, die Wasserkugel schrank zusammen, der Sturm wurde zu einer trüben Nebelwolke, der Meteorit bekam Risse und die abstrakten Geister wurden kleiner und langsamer in ihren Bewegungen. Sie alle verloren an Macht, doch Darion verzehrte sie nicht komplett. Als er die Augen wieder öffnete, war ein Leuchten in seine Augen getreten, das seit seiner Ankunft im Labyrinth fehlte. Magie. Sein Blick schnellte zur Plattform herab und das Leuchten verschwand wieder aus seinen Augen. Für einen Moment geschah nichts, doch als Darion den Finger aus der Einbuchtung zog, begannen die silbernen Runen auf der Plattform in einem schwachen grünen Licht zu leuchten. Darion stand auf, verbeugte sich und sprach: »Es ist geschafft! Ich danke euch, Wächter der Elemente, geehrte Herrscher dieses Reiches.«
Die Geister entfernten sich von der Plattform, als diese begann, sich in die Höhe zu heben. Nizula blickte ihnen nach und schwelgte in Erinnerungen an Orakel und Hexen. Gepackt von neuer Inspiration, nahm sie ihre Schriftrolle vom Rücken und begann mit einem kleinen Stück Kohle, einen neuen Zauber zu entwerfen.

Darion beobachtete Nizula bei ihrer Arbeit und schwieg. Sie schwebten mit der Plattform durch die Dunkelheit, bis über ihnen eine Öffnung sichtbar wurde. Auch die Decke der großen Halle bestand aus den reglosen Körpern von Mumien, die so aussahen, als versuchten sie, in das Loch hinaufzuklettern. Die Plattform stieg durch die Öffnung hinauf und erreichte schließlich ihr Ziel: Eine Kammer aus schwarzem Stein, erleuchtet allein durch die schwachen, weißen Flammen zweier Feuerkelche. Eine große, schwarze, steinerne Tür verschloss den einzigen Ausgang aus der Kammer. An ihr lehnte eine einzelne, letzte Mumie. Die Leiche des Vergessenen, der am weitesten gekommen war, sein Ziel jedoch nie erreicht hatte. Er trug eine edle und stilisierte braune Fuchsmaske und Nizula erstarrte, als sie ihn erkannte.
Darion beobachtete, wie Nizula sich zu dem Toten hockte und die Leiche untersuchte. Sie war vorsichtig und respektvoll. Sie versuchte, nichts an ihm zu zerstören. Darion musste einfach fragen.
»Ihr kennt ihn?«
»Kennen ist ein mächtiges Wort. Ich kenne seine Hinterbliebenen und ich habe gesehen, was sein Verlust mit ihnen angerichtet hatte.«
»Das tut mir Leid.«
»Muss es nicht. Ihre Trauer hat die Welt aus dem Gleichgewicht geworfen und wir — also meine Schwester, die anderen Sucher und ich — sind gerade dabei, dieses Gleichgewicht wiederherzustellen.«
Sie löste ein Lederarmband mit einem kleinen Medaillon vom rechten Handgelenk der Leiche. Der Arm des Toten war bis zu seiner Schulter von silbernen Adern durchzogen.
»Ich suche nur nach etwas, was ihre Erinnerungen zurückbringen kann. Vielleicht hilft es, ihre Leere nach all der Zeit zu füllen.«
Nizula stand auf, band sich das Armband um und schaute fordernd zu Darion rüber.
»Und? Wie geht es weiter?«
Darion betrachtete die steinerne Doppeltür. Anstelle von magischen Runen, zierte sie auf jedem ihrer Flügel ein Mund umgeben von sechs geschlossenen Augen. Ein einzelner Schriftzug in einer fremden Sprache war über der Tür in die Wand gehauen. Darion legte seine Hände auf den kalten Stein der Tür und schob. Sie rührte sich nicht. Er blickte zurück zur Levitationsplattform. Ihre Energie war aufgebraucht und von den Elementargeistern gab es keine Spur. Einen Weg zurück gab es nicht. Darion war ratlos.

Die weißen Flammen flackerten, als Nizula zu ihnen trat. Für eine Weile starrte sie in das weiße Licht und sprach dann: »Ich höre sie flüstern. Es ist kaum wahrnehmbar, aber diese Flammen sind durchtränkt von Erinnerung.«
Darion trat auch näher an die Flammen heran. Keine Wärme umhüllte ihn, als er sich ihr mit seiner Hand näherte. Nizula rief ihm warnend zu: »Seid vorsichtig. Ich vermute auch die Fuchsmaske hat die Flammen berührt und die Erinnerungen haben sich in seine Arme gefressen.«
Er hielt inne und starrte hinüber zu dem Leichnam und dem Handgelenk, das von silbernen Adern durchdrungen war.
»Habt ihr so etwas schon einmal gesehen?«, fragte er Nizula.
»Etwas ähnliches. Personen, die flüssige Erinnerungen tranken, sind von ähnlichen Veränderungen betroffen. Zumindest manche.«
Sie zeigte ihm ihren versilberten Zeigefinger und erläuterte: »Meine Gabe ist etwas ähnliches. Doch zu viel davon und es zerfrisst einen.«
»Und was kann man damit machen? Mit diesen Erinnerungen? Mir erschließt sich nicht, warum man damit hantieren sollte, wenn es doch so gefährlich ist.«
»Es stärkt die Magie und erweckt in manchen Personen besondere Fähigkeiten. Soweit ich weiß, ernähren sich Titanen davon um ihr Leben zu erhalten.«
»Titanen?«
»Bei der Mutter und dem großen Baum. Muss ich euch eigentlich alles erklären?«, sie seufzte und erläuterte: »Titanen. Mächtige Elementarwesen, von der Göttin erschaffen, um die Welt zu formen. Wandelnde Berge, Stürme, Vulkane, —«
Noch während Nizula erklärte, begriffen die beiden Magier, was zu tun war, und blickten zur Tür.

Kurze Zeit später tauchten die beiden Magier ihre Hände in die weißen Flammen. Sie fühlten sich für Darion komplett unerwartet an. Sie waren weder heiß, noch kalt. Hatten keine wirkliche Struktur, waren aber auch nicht gänzlich widerstandslos. Darion spürte ein wohliges Kribbeln an seinen Armen empor kriechen, als das weiße Feuer seine Hände umschloss. Er umfasste einen Teil des Feuers und zog mit seinen Fingern einen hauchdünnen, silbernen Faden daraus hervor. Er lächelte und blickte zu Nizula hinüber, die ihm bereits ein paar Schritte voraus war. Sie zogen beide jeweils einen silbernen Faden aus dem weißen Feuer und spannten diesen hinüber zur schwarzen Tür. Die Fäden ließen sich länger ziehen, als Darion es erwartet hätte und es schien, als könnten sie die Fäden problemlos durch den ganzen Raum spannen. Vorsichtig traten sie zu der Tür und führten ihre Fäden zu den Mündern auf den Flügeln der Doppeltür.
Mit einem plötzlichen Ruck wurden die Fäden in die Münder hineingezogen, ein lautes »Plopp!« ertönte und die Flammen erloschen hinter den beiden Magiern. Dunkelheit umhüllte sie, bis sich plötzlich die Augen auf den Türflügeln öffneten und jeweils in sechs verschiedenen Farben auf die Magier herab starrten. Sie leuchteten grell und ihre Blicke wirkten wie Sonnenstrahlen. Nichts an ihnen war menschlich.

Die Münder der Türen öffneten sich und eine laute, tief dröhnende Stimme zwang die beiden Magier in die Knie.

»ARKONTE TU ORANO ITHO«
»ARKONTE TU ADONU ZHUKHA«
»ELTHE EIS ESO.«

Die Augen der Tür schlossen sich und die Türen begannen sich zu öffnen. Staub rieselte von der Decke der Kammer herab. Die Magier standen auf und blickten zu ihren Armen herab. Sie waren von silbernen Adern durchdrungen, welche sich in Darions Fall sogar bis zu seinem Brustkorb ausbreiteten. Doch die Adern erzeugten keinen Schmerz. Ganz im Gegenteil. Sie pulsierten vor Magie. Darion wollte durch das Tor treten, doch Nizula zögerte, blickte noch einmal zu dem Leichnam mit der Fuchsmaske und sprach: »Ihr seid nicht vergessen, Fuchsmaske.«
Damit trat sie durch das Tor und hinein in das Licht. Darion folgte ihr.

Musikempfehlung