Kinder des Waldes
Es war einmal eine große Lichtung, tief versteckt im düstren Walde. Dort fand sich eine beschauliche Hütte, ein kleiner See und ein Feld mit Karotten, Gurken und Kürbissen. Die Winter in diesem Wald waren hart und die Sommer gefüllt mit Leben. Acht Waisen wohnten dort mit ihrer Großmutter in der kleinen hölzernen Hütte, in der es immerzu nach Kräutern und seltenen Ölen roch. Einst hatte die Großmutter die Kinder an weit entfernten Orten gefunden und hier in den Wald gebracht, um ihnen Obhut zu geben. Sie lebten glücklich. Die Kinder tollten über die Lichtung, kletterten auf den alten Apfelbaum über dem Feld und erträumten zusammen Geschichten vor dem Kamin. Die Großmutter wiederum lauschte aufmerksam den kindlichen Träumereien, machte ihnen Essen und kümmerte sich um Haus und Hof. Sie war eine gütige alte Dame, die einst selbst weit gereist war und somit des Öfteren auch eigene Geschichten vor dem Kamin beizutragen hatte. Wenn dies geschah, lauschten die Kinder ihr gespannt, während sie in ihrem knarzenden Schaukelstuhl hin und her wippte. Tagsüber halfen die Kinder auf dem Feld, auch wenn die Großmutter sie nie darum bat, denn sie wollten ihr gern etwas Gutes tun. Im Gegenzug machte die Großmutter den Kindern nur sehr selten Vorschriften und ließ sie meist machen, was sie wollten. Nur eine Regel gab es für die Kinder und diese musste strengstens befolgt werden: Niemand außer der Großmutter verließ die Lichtung. Auch die Kreaturen des Waldes schienen sich an diese Regel zu halten. Sie beobachteten die Kinder oft aus dem Schutz der Bäume und Sträucher und wagten sich nie auf die Lichtung. Nur eine alte zerzauste Krähe saß oft auf den Ästen des Apfelbaums, auf dem Dachbalken der Hütte oder auf dem Zaun des Feldes. Es war wahrlich ein idyllisches und ruhiges Leben.
Die Jahre vergingen und die Kinder wurden älter. Am Morgen eines heißen Sommertages weckte die alte Großmutter die Kinder jedoch schon früh am Morgen, bevor die Sonne ihre ersten Strahlen auf die Lichtung werfen konnte. Sie erklärte den Kindern mit ruhiger Stimme, dass es nun Zeit werde, Abschied von einem der ihren zu nehmen. Das älteste Kind, ein Junge namens Holar, würde heute fort reisen, um auf eigene Faust die weite Welt zu erkunden, Abenteuer zu erleben und vielleicht sogar eine eigene Familie zu gründen. Natürlich verstanden die Kinder nicht. Alles was sie hörten war, dass ein Teil ihrer Familie nun gehen würde. Daher versuchten sie mit lautem Durcheinandergerede dagegen zu protestieren. Doch die Großmutter blieb standhaft und ließ sich nicht beirren. Schließlich war es Holar selbst, der wieder Ruhe in die kleine Hütte auf der Lichtung brachte. Er streckte stolz die Brust heraus, stellte sich aufrecht vor sie und sprach: »Wenn ich wiederkomme, bin ich König — nein, Kaiser, eines strahlenden Reiches. Und ihr, werdet dort immer willkommen sein, als meine liebsten Gäste, als meine Familie.« Seine langen blonden Haare folgten einer maßlos übertriebenen Verbeugung und der Smaragd an seiner silbernen Halskette funkelte im Licht der Morgensonne. Die Kette war das letzte Geschenk seiner Mutter gewesen. Eine letzte Erinnerung an einen fernen Ort und eine ferne Vergangenheit. Die Großmutter ergriff Holars Hand, lächelte den Kindern nocheinmal beruhigend zu und trat mit Holar an ihrer Seite durch die Tür. Mit stetigem Schritte verschwanden sie zusammen schließlich zusammen im Wald und die Kinder blieben allein zurück.
Alleingelassen und einem der ihren beraubt, waren die verbliebenen Kinder unsicher und wirkten verloren. Sie waren alle geschockt und zahlreiche Tränen flossen. Die Älteste der verbliebenen Kinder, ein Mädchen namens Luvia, setzte sich schließlich vor den Kamin, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und blickte erwartungsvoll mit ihren silbernen Augen zu den anderen auf. Zitternd sprach sie: »Holar wird einmal ein Kaiser sein, habt ihr das gehört? Er wusste schon, was er einmal erleben will, wenn er die Chance bekommt, die weite Welt zu erkunden. Ich bin mir selbst noch gar nicht so ganz sicher, was ich da draußen gerne finden würde. Ich hab Ideen, aber ich würde gerne genau so sicher sein wie Holar es war. Wollt ihr mir bitte dabei helfen? Kommt, setzt euch und plant zusammen mit mir, was für Abenteuer wir mal erleben werden.«
Die Kinder sammelten sich schniefend vor dem Kamin und verteilten sich auf ihren üblichen Lieblingspositionen. Holars Platz blieb leer. Das war allen schmerzlich bewusst.
Sieben Kinder verblieben in der Hütte auf der Lichtung. Luvia, Ill, Arva, Dalara, Thyria, Inura und Lor.
Luvia, die älteste der Verbliebenen, war ein ruhiges Mädchen mit langem weißem Haar und silbernen Augen. Zögerlich begann sie, den anderen Kindern von ihrer Abentueridee zu erzählen. Es war eine Geschichte über eine große Metropole. Ganz anders als die einsame Lichtung, war die Metropole ein Ort des Lebens, der Gesellschaft, der Politik und der Intrigen. In dieser Stadt war ein Geheimnis mehr Wert als jedes Gold und die wichtigen Entscheidungen wurden immer im Verborgenen getroffen. Sie wollte unbedingt einmal einen der Maskenbälle dieser Stadt besuchen und dort Tanzen. Unerkannt, mysteriös und wunderschön. Nachdem Luvia dies mit den anderen geteilt hatte, wirkte sie zufrieden und die Trauer über Holars Fehlen war für einen Moment aus ihrem Gesicht verschwunden.
Bevor die Trauer zurückkehren konnte fuhr Ill, ein hagerer Junge mit kurzen dunklen Haaren, fort. Er war der zweitälteste der Gruppe und einen ganzen Kopf größer als die anderen. Er erzählte eine Geschichte über einen riesigen weißen Turm, der selbst die höchsten Berge überragt und die Wolken spaltete. Es war ein Hort des Wissens, in dem sich die Magier und Forscher der Welt fortbilden können. Isoliert und geschützt vor der Außenwelt, wurde der Zutritt nur denjenigen gewährt, die eine bestimmte Prüfung bewältigt hatten. Er wollte unbedingt selbst einmal diesen Turm besuchen und die Prüfung bestehen, doch er war sich unsicher, was diese Prüfung sein konnte. Schließlich war es Thyria, ein anderes Mädchen in der Gruppe, die auf die Idee einer langen Reise kam. Eine Reise durch die Welt, bei der sich die Wissbegierigen mit jeder Kultur und jedem Land vertraut machen sollen. So würden sie schon bei ihrer Ankunft möglichst viel eigenes Wissen zum Turm mitbringen. Ill gefiel die Idee und sie arbeiteten das Konzept gemeinsam weiter aus.
Während sie mit Ill an der Geschichte des Turmes arbeitete, begann Thyria, auch über ihre eigene Geschichte nachzudenken. Das Mädchen mit ihren gräulich-blonden, zerzausten Haaren und einer stets ernsten Mine, brauchte in ihrem Alltag stets regelmäßige Abläufe und war stets sehr ordentlich. Meist war sie ruhig und besonnen, wurde jedoch außerordentlich ungehalten, wenn jemand ihre eigene Ordnung nicht einhielt. Diese Eigenschaften ließ sie in ihre Geschichte mit einfließen. Sie erzählte den Anderen von einem Land, in dem Tradition und Leben Hand in Hand gingen. Ein Land, in dem Ehre und Beständigkeit wertgeschätzt wurden und jeder, der die Ordnung bricht, strengstens bestraft wurde. Die anderen Kinder wirkten wenig begeistert und so überlegte Thyria, was sie noch hinzufügen konnte. Sie dachte an die letzten Nächte zurück, zu denen sie, Dalara und Lor sich nachts aufs Dach der Hütte geschlichen hatten, um die Sterne zu beobachten. Sie grinste und fuhr mit ihrer Erzählung fort. Jedes Mal, wenn sie die Sterne am Nachthimmel sah, strahlten ihre Augen und sie vergaß die Zeit. Genau diese Magie wollte sie mit ihrer Geschichte schaffen. So kam es, dass sie in ihrer Geschichte einen Berg schuf, der sogar Ills Turm in seiner Höhe herausforderte. Die Spitze des Berges war so hoch, dass die Sterne dort fast greifbar waren. Auf dem Berg waren die Tradition des Landes und die Magie der Sterne fest miteinander verwoben und eine Vielzahl an Kreaturen aus allen Welten fand dort ihr Zuhause. Dies kam besser bei den anderen Kindern an.
Sie begannen sich aufgeregt darüber zu unterhalten, was und wer dort auf dem Berg leben könnte, bis schließlich Dalara, ein Mädchen mit dunkler Haut und kurzen, blonden Locken, Thyria aufgeregt fragte, ob es auf ihrem Berg auch Drachen geben wird. Thyria war etwas überrumpelt, blickte jedoch in Dalaras strahlende Augen und nickte. Nun mitten im Fokus der Gruppe, setzte Dalara genau dort an und erzählte eine Geschichte über ein mächtiges und stolzes Reich der Drachen. Sie beschrieb, wie die Drachen mit ihren Flügelschläge die Luft zum Erzittern bringen würden und wie jedes Wesen vor diesen mächtigen Kreaturen in Ehrfurcht fallen würde. Fast schon, als würde sie den anderen ein Geheimnis anvertrauen, führte sie mit einer leisen Stimme fort und erklärte, dass manche der Drachen sich Diener halten würden und manche der Diener sogar die Ehre erhalten würden, auf den Drachen in die Schlacht zu ziehen. Sie war begeistert von der Idee, auf dem Rücken eines Drachen in eine große Schlacht zu ziehen. Aber eine Schlacht gegen wen? Da war sich Dalara unsicher, denn weder die Metropole von Luvia, noch der Turm von Ill, noch der Berg von Thyria boten eine spannende Herausforderung für ihre Drachen.
Da ergriff Arva die Chance, ihre eigenen Überlegungen mit in die Geschichten der Anderen einfließen zu lassen. Arva war ein energetisches Mädchen mit einer braunen Lockenmähne und haselnussfarbenen Augen, was die Angewohnheit hatte, die Geduld der Großmutter immer wieder zu strapazieren. Als Dalara nach einem Gegner für ihre Drachen suchte, streckte Arva die Hände in die Höhe und begann von Riesen zu erzählen. Sie beschrieb eine Ganze Dynastie von Riesen, welche stark genug waren, die ganze Welt zu erobern. Alle waren sich einig: Arvas Riesen waren ein wahrhaft würdiger Gegner für Dalaras Drachen. Als Heimat für die Riesen legten sie den vereisten Norden fest. Dort würden sie den Mächten der Natur trotzen, an Orten, an denen es selbst den Drachen zu kalt sein würde. Sie würden durch die Lande ziehen und die Drachen jagen, um aus ihren Knochen mächtige Waffen und Rüstungen zu fertigen. Arvas Augen glänzten bei der Vorstellung auf den Schultern eines Riesen durch das Land zu ziehen. Weit über den Wipfeln der Bäume, weit über den Mauern, die ihr aktuelles Leben begrenzten.
Doch mit welchem Ziel würden die Riesen und die Drachen kämpfen? Inura unterbrach die Erzählung der anderen und schüttelte Inura den Kopf, als niemand ihre Frage zufriedenstellend beantworten konnte. Das bleiche Kind mit den langen dunklen Haaren war nicht gerade begeistert von Geschichten über ständigen Krieg und Zerstörung. Also erschuf sie eine Geschichte über einen gemeinsamen Glauben, der die verschiedenen Völker schließlich wieder vereinen würde. Eine Stimme der Winde, die durch die weiten Ebenen, Wälder und Berge zieht. Die Stimme würde für Einheit sorgen und zusammen, so präsentierte Inura, würden die Völker dann großartige Dinge erschaffen und die Welt zu einem besseren Ort machen.
Die anderen Kinder nickten, zufrieden mit der Idee Inuras. Ihre Blicke wanderten erwartungsvoll zum letzten Kind der Gruppe. Dem einzigen, der noch nichts zur gemeinsamen Geschichte beigetragen hatte. Lor war mit ein paar Jahren Abstand der jüngste der Gruppe. Er war ein kleiner, schmächtiger Junge mit feuerrotem Haar, war vorsichtig, schüchtern und fühlte sich sichtlich unwohl bei dem Gedanken, nun selbst im Zentrum der Erzählung zu stehen. Thyria legte ihm aufmunternd eine Hand auf die Schulter und fragte ihn konkret, was er denn einmal in der Welt suchen möchte. Lor überlegte kurz und erklärte, er wolle eigentlich gar nicht so viel erkunden. Drachen, Riesen, Magie und Intrigen interessierten ihn nicht so wirklich. Eigentlich wollte er nur basteln. Was richtig tolles erschaffen. Und so beschrieb er einen Ort an dem die besten Handwerker der Welt die beeindruckendsten Schätze, Gebäude und Monumente erschaffen würden. Tief in den Bergen würden sie graben und wunderschöne Städte aus dem Stein der Welt hauen. Die anderen nickten ihm bestätigend zu und nahmen seinen Wunsch in die gemeinsame Geschichte mit auf. Lor grinste und war nun vollends bei der Erzählung dabei.
Und so saßen die Kinder auch am Abend noch beisammen, erzählten einander fantastische Geschichten, während die Krähe vor dem Fenster saß und lauschte. Irgendwann, schließlich, kam auch die Großmutter wieder zurück und das normale Leben auf der Lichtung ging weiter.
Im Laufe der nächsten Jahre verließen auch Luvia und Ill die Lichtung. Wie auch Holar legten sie an der Tür ein Versprechen darüber ab, was sie mal in der Welt finden und erleben werden. Ein Versprechen an den gemeinsamen Traum, an die gemeinsame Geschichte. Danach verschwanden sie dann mit der Großmutter im Wald.
Nun lebten nur noch fünf Kinder auf der Lichtung und ein weiteres Jahr verging. Die Kinder fragten sich, wann sie endlich mal von Holar, Luvia oder Ill besucht werden würden. Jedes Mal, wenn sie die drei leeren Betten sahen, fragten sie sich zudem, ob die Großmutter jemals wieder neue Kinder auf die Lichtung bringen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Immer, wenn sie die Großmutter fragten, betonte diese nur, wie Holar und die anderen nun ihre eigenen Träume leben würden und dass die verbliebenen Kinder sich doch keine Sorgen um sie machen müssten. Arva war nun die Älteste der Gruppe. Sie war ein immer noch aufgewecktes und mutiges Kind, verstand sich gut mit den Anderen und war bei weitem die Beste im Klettern. Da sie die Älteste war, war sie wahrscheinlich die nächste, die die Lichtung verlassen würde. Sie konnte es kaum erwarten, endlich die weite Welt außerhalb der Lichtung zu erkunden. Immerzu führte sie kleine Abenteuer an, in denen sie und die anderen Kinder die Randbereiche des Waldes erkundeten. Sie forderten unter Arvas Führung immer weiter die Regel der Großmutter heraus, doch diese schien es nie zu bemerken. Die Krähe auf dem Apfelbaum war die einzige, die etwas von den Abenteuern der Kinder wusste. Schließlich waren eines Tages die Ungeduld und der Hochmut der Kinder so groß, dass sie beschlossen, ein wahrhaft großes Abenteuer im verbotenen Wald anzutreten. Sie packten etwas Brot und Gemüse ein und gingen los, als die Sommersonne am höchsten Punkt des Tages stand. Dieser Zeitpunkt war wichtig, denn wie die Kinder beobachtet haben, war dies immer die Zeit, in der die Großmutter ihrem täglichen Mittagsschlaf verfiel. Sie würden dem Pfad folgen, der auch die älteren Kinder schon aus dem Wald geführt hat und vielleicht sogar schon wieder zurück sein, wenn die Großmutter aufwachte. Sie versammelten sich vor dem Eingang des Waldes, blickten noch einmal zu der kleinen Hütte zurück und betraten, unter Arvas Führung, den verbotenen Wald.
Über Stock und Stein, unter großen Wurzeln hindurch und über umgefallene Baumstämme wanderten die Kinder hinweg. Sie folgten dem alten Trampelpfad mit dem Ziel, den Rand des Waldes zu erreichen und endlich einen lang erhofften Blick auf die Außenwelt zu werfen. Der Wald um sie herum war dicht, dunkel und dennoch lebendig. Hier und da sahen sie aus den Augenwinkeln etwas durchs Dickicht huschen oder Augen, die sie bei ihrer Wanderung beobachteten. Als die Sonne unterging und der Tag sich dem Abend neigte, waren sie bereits tief in den Körper des Waldes eingedrungen. Die Bäume um sie herum ragten in die Höhe wie die Knochen eines uralten Biests und der Pfad schlängelte sich dazwischen hindurch, wie Eingeweide. Das Dickicht abseits des Pfades war düster und unwegsam und kein Ende war in Sicht. Müde und erschöpft machten sie an einer großen Wurzel Rast und der kleine Lor begann in einer flehenden Stimme das zu fordern, was sich alle Kindere bereits wünschten: »Lasst uns bitte zurückgehen, Arva. Ich will nach Hause. Es ist viel zu dunkel hier und der Wald ist gruselig.« Seine Hände klammerten sich zitternd an die Kleidung von Thyria, die selbst durch Lors Angst verunsichert schien. Arva trat zu Lor, lächelte sanftmütig und ging vor ihm in die Hocke. Sie löste seine verkrampften Hände und umschloss sie mit ihren eigenen. Sie sprach mit ruhiger, aber fester Stimme: »Nur noch ein kleines Stück Lor. Schaffst du das? Es ist wirklich weiter als ich gedacht habe. Inzwischen ist es sogar schon Nacht geworden. Großmutter hat unser Verschwinden sicher schon bemerkt und wird uns suchen. Aber das heißt auch, sie wird wahrscheinlich wütend sein und uns nicht nochmal davonschleichen lassen. Ich befürchte, dies ist der einzige Versuch, den wir haben. Bitte Lor, halt noch ein Stücken für mich durch. Nur noch ein bisschen. Irgendwann muss dieser Wald ja enden. Großmutter war doch auch immer am Abend schon wieder zurück.« Lor blickte unsicher zu Thyria hinauf und als diese aufmunternd lächelte, nickte der Junge zögerlich. Die Gruppe rastete noch etwas, verputzte dabei den Rest ihrer Rationen und begann das letzte Stück ihrer Reise durch das Innere des verbotenen Waldes. Das Licht des Tages wurde dabei immer schwächer und schwächer.
Hungrig und müde erreichten sie schließlich das Herz des Waldes. Neugierige Augen der Waldbewohner beobachteten sie weiterhin aus den Schatten des Dickichts, als sie zwischen drei großen knorrigen Bäumen einen moosbewachsenen Saal aus steinernen Säulen betraten. Eine ihnen bekannte Krähe saß auf einem der Steine und beobachtete sie. Arva rief ihr zu: »Hallo Krähe! Du bist uns wohl gefolgt? Du willst wohl auch sehen, was die Welt da draußen so zu bieten hat.« Die Krähe krächzte als Antwort und die Kinder schauten sich auf der Lichtung um.
Der Pfad endete hier. Schwaches Licht von leuchtenden weißen Blumen hüllte den Kreis aus Säulen in ein schummriges Licht. Alte Runen zierten die Steine auf dem Boden und braune Pilze wuchsen in verschnörkelten Mustern entlang des Kreises. Die Kinder erkundeten den Säulensaal, doch fanden nichts außer Moos, Pilz und Stein. Nur Lor fand einen Hinweis. Tief in der Erde unter dem Moos fand er eine silberne Halskette mit einem grünen Smaragd. Er rief die anderen zu sich und zeigte ihnen stolz seinen Fund. Sie blickten einander hoffnungsvoll an und Thyria struwelte durch Lors feuerrote Haare. Ihr Fund war eindeutig. Holar war hier gewesen! Sie waren auf der richtigen Spur. Doch auch beunruhigende Rätsel taten sich auf. Warum lag die Kette hier? Holar hätte ihr Fehlen doch sicher bemerkt?
Sie fanden keine Antwort auf diese Fragen und nahmen sich vor, die Kette bei ihrem Wiedersehen an Holar zurückzugeben. Er würde sich sicher darüber freuen, dass sie sie gefunden hatten. Lor legte sich stolz die Kette um den Hals und die Kinder suchten mit neuer Hoffnung weiter. Irgendwo hier musste Holar weiter gegangen sein.
Die Nacht lag tief und still über dem Herz des Waldes. Ein warmer Wind ging von dem Herzen aus und wehte rhythmisch, wie durch ein Herzschlag getrieben, spiralförmig durch den Wald. Während die Kinder die Lichtung durchsuchten, bewegte sich in weiter Entfernung eine Gestalt leise durch den Nachthimmel.
Drei große knorrige Bäume umrahmten in gleichmäßigem Abstand den Säulensaal. Die Kinder beschlossen, auf die Bäume zu klettern, um von oben einen Weiterweg zu finden, doch bevor sie oben ankamen, durchschnitt ein Schrei die dunkle Nacht. Thyria taumelte plötzlich von einem der Bäume zurück, stolperte über eine Wurzel und fiel schmerzhaft auf den Rücken. Doch ohne den Schmerz zu beachten, streckte sie den Finger aus und zeigte auf den Baum. »Ein Gesicht. Der Baum da - er hat ein Gesicht.«, rief sie schluchzend. Lor und Dalara halfen Thyria auf, als Arva geschwind auf den Baum kletterte, um ihn sich genauer anzusehen. Tief in der Baumkrone war etwasm, was auf den ersten Blick auch ein Astloch oder verformte Rinde hätte sein können. Die unförmige Stelle entpuppte sich jedoch als ein Gesicht, als Arva sich näherte. Das Gesicht bestand zwar aus Rinde und Holz, war ein fester Teil des Baumes und war jedoch auch definitiv ein Gesicht. Vorsichtig kletterte Arva näher und berührte sanft die Wange des seltsamen Gesichts. Die raue Rinde unter ihren Fingern fühlte sich kalt an. Sie beobachtete, wie das Gesicht langsam seine Augen öffnete. Zwei silberne Augen, die ganz und gar nicht aus Holz bestanden, blickten sie müde an. Die Zeit um Arva schien für eine Ewigkeit still zu stehen und ihr Kopf drehte sich. Sie kannte diese Augen. Sie erkannte, doch sie weigerte sich zu verstehen. Erst als das Gesicht sanft lächelte, brach der Wall, den Arva instinktiv in sich aufgebaut hatte. »Luvia?«, fragte sie das Gesicht schockiert. Ohne eine Antwort zu geben, schloss das Gesicht seine Augen wieder. Arva sprang vom Baum herab, drehte sich zu den anderen um und rief: »Ich… Ich glaube, der Baum hier ist Luvia. Ich weiß nicht, wie, aber schaut euch mal die anderen genauer Bäume an. Vielleicht sind das ja Holar und Ill.«
Angst lag in ihrer Stimme und ihre Gedanken rasten. Was hatte das hier zu bedeuten? Was war hier geschehen? Als die Kinder auf die beiden anderen Bäume kletterten bestätigten sich Arvas Befürchtungen. Die beiden anderen Bäume trugen ebenso Gesichter. DIe Gesichter von Holar und Ill. Und auch diese beiden Gesichter reagierten nur langsam auf ihre Anwesenheit und sprachen kein Wort. Nur Berührung schien sie zu erwecken und auch dann wirken sie wie im Schlaf. Die Kinder verfielen in Panik. Verzweifelt versuchten sie, ihre baumgewordenen Freunde zu erwecken und zu erfahren, was hier geschehen war. Doch bevor sie irgendeine Antwort auf ihre Fragen erhalten konnten, landete etwas sanft in dem Säulensaal. Es war die Großmutter. Sie hielt den alten Besen aus der Hütte in ihrer linken Hand trat zur Krähe hinüber und kraulte diese. Mit einer strengen Stimme rief sie die Kinder zu sich und die Kinder gehorchten. Erstaunlicherweise wirkte ihr Gesichtsausdruck nicht wütend, sondern eher enttäuscht. Aber das war den Kindern egal. Sie hatten Fragen und die Großmutter hatte Antworten. Mit aufgeregten Fragen überhäuften sie die Großmutter, versuchten sie zu den Bäumen zu zerren, plapperten panisch durcheinander und versuchten, ihr verzweifelt klarzumachen, dass ihre Freunde zu Bäumen geworden waren. Doch die Großmutter ignorierte sie und sprach in einem enttäuschten Ton: »Warum macht ihr es einer alten Dame so schwer, meine Kinder? Ihr solltet doch nur wachsen, gedeihen und dann eure eigenen Träume träumen. Den verbotenen Wald nicht auf eigene Faust zu betreten. Das ist alles, was eure Großmutter je von euch verlangt hat. Und nun sind wir hier. Hab ich euch denn jemals schlecht behandelt?«
Bevor die Kinder darauf reagieren konnten, ergriff die Großmutter die Hand von Dalara und begann das Mädchen hinter sich her zu zerren. Sie hatte mehr Kraft als die Kinder erwartet hatten. Thyria und Lor versuchten zu fliehen, während Inura und Arva sich auf die Großmutter stürzten, um Dalara zu befreien. Doch weder die Flucht, noch die Rettung waren von Erfolg. Arva riss, biss und schrie, doch die Großmutter brauchte nur einen Finger auszustrecken und die Körper aller fünf Kinder erschlafften auf einen Schlag. Ihre Körper plumpsten zu Boden, wie die Rübensäcke auf dem Feld. Arva konnte nur machtlos zusehen, wie die Großmutter Dalara zu einer freien Stelle neben den Bäumen schleppte.
»Hier ist ein guter Platz für dich Dalara«, erklärte sie sanft. »Der Boden ist fruchtbar und stabil; die Erde ist gesättigt von der Magie dieses Ortes. Du wirst diesen Platz mögen. Erschaffe hier deinen eigenen Traum, Dalara. Ein Traum von Drachen war es, nicht wahr? Ja, ja... Eure Großmutter hat euch immer zugehört, meine Kleinen.«
Sie setzte Dalara sanft auf den feuchten, moosigen Boden und begann etwas vor sich hin zu murmeln. Ein langes Seufzen ertönte, als die Luft aus Dalaras Körper entwich und ihr Körper schlaff auf dem Boden zusammen sackte. Stille machte sich über dem Platz breit. Während die Großmutter den leblosen Körper von Dalara beobachtete und dabei weiter ihre Zauberformel murmelte, versuchte Arva verzweifelt, ihren Körper zu bewegen. Es konnte nicht wahr sein. Das hier war ihr Ende? Dazu verdammt, Teil dieses furchtbaren Waldes zu werden? Arva kämpfte, doch es war vergebens.
Ein lautes Knacken riss Arva aus ihren Gedanken. Dalara saß nun aufrecht da, den Kopf zum Himmel gerichtet. Ihr Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet. Dort, wo ihre Haut die Luft berührte, bildete sich dunkle, harte Rinde. Dort, wo ihr Körper den Boden berührte, trieben Wurzeln aus ihrer Haut. Arva konnte nur hilflos zusehen, wie Dalara sich von Moment zu Moment immer weiter in einen Baum verwandelte. Die Großmutter drehte sich zufrieden um, und widmete sich Arva. Ohne jegliche Mühe wurde sie von der Großmutter hochgehoben und zu ihrem Platz gebracht. Arvas Augen glänzten vor Zorn und sie machte sich selbst ein Versprechen. Dies war nicht ihr Ende. Es musste einfach einen Weg geben, ihre Freiheit zurückzuerlangen. Diesen Weg würde sie finden. Komme was wolle.
Die Großmutter verteilte die Kinder über die Lichtung. Der Boden war außerordentlich fruchtbar und die pulsierende Magie erfüllte die Umgebung so stark, dass die Luft auf der Haut der Großmutter kribbelte. Dies war ein guter Ort für einen Wald. Sanft tätschelte sie die Rinden der frisch wachsenden Bäume. Sie war stolz auf ihre Kinder.
So wuchsen die Kinder heran zu großen stattlichen Bäumen. Es dauerte nicht lang und sie überragen jeden Baum des verbotenen Waldes. Sie wuchsen weiter und weiter, und sie begannen zu träumen — von weiten Ebenen, hohen Bergen, mächtigen Drachen, weisen Magiern und starken Riesen. Sie wuchsen immer weiter und schließlich begannen wir Feen auf ihren Ästen zu siedeln. Sie gaben uns einen Anker und den Schutz vor den Gefahren des Waldes. In ihrer Obhut bauten wir unsere Königreiche und Domänen, unsere Dörfer und Wälder. Und während die Kinder des Waldes schliefen und sich ihre eigene Welt erträumten, waren wir dankbar.
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Stuck in the middle of a forest made of
Flesh and bones and they're all scared of
A lost little boy who has lost his heart
Fear's not enough, they have to
Tear him apart
Follow the scent of iron sinking
Deeper into corpses rotting
But they can't hear you talk, talk, talk
About every little thing
Every little thing
Every
And the Hound
Is humming you
A lie, a lullaby
...