Die Drei Winde Inuras*

Publiziert am 9.05.2025
Lesedauer: ~ min

Meine lieben Leser, in diesem Kapitel des Buches reisen wir in den fernen Süden. Durch weite Steppen und trockene Wüsten, über brennende Berge und dichte Dschungel.
Die folgenden Geschichten stammen aus den Recherchen meiner Nichte Yolanda. Direkt von dem Wipfeln Inuras. Ihr müsst wissen, Inura war nicht immer so von Trauer und Angst zerfressen, wie sie es heute ist. Nein, vor Äonen, noch bevor die Himmlischen die Schicksale der Sterblichen lenkten, wanderten schuppige Bestien durch die Steppen ihrer Lande und zwischen ihnen lebte das Volk des Windes. Das Volk des Windes war ein Volk der Wanderschaft, ein Volk der Tradition und ein Volk des Friedens. Ihr Glaube galt keinen Göttern, keiner Magie und auch nicht der Klinge. Er galt nur den drei Winden der Steppe.
Hoch oben auf den Bergen der Drachenklauen errichteten sie Tempel, die mit den Winden sangen und ihr Lied über ganz Inura verbreiteten. Tag und Nacht sangen die Tempel und das Volk lauschte. Ihr Gesang warnte das Volk vor Stürmen, verriet ihnen die Geheimnisse des Regens und lehrte sie in der Kunst der Musik.

Yolanda hat drei Geschichten für euch auserwählt um euch die drei Winde näherzubringen. Also hört gut zu. Es gibt viel zu lernen.

Mein Freund der Wind

Es war einmal das Kind einer Weberin. Innerhalb der Karawane war es das einzige Kind in seinem Alter und spielte meist allein. Das Kind war jedoch eine Frohnatur durch und durch, half gern seiner Mutter bei der Arbeit, suchte nach kleinen Käfern im Sand der Steppe oder beobachtete die vorbeiziehenden Wolken vom Rücken der Gul’Dawa.

Eines Nachts, als nun die Karawane an einer Oase ihr Lager aufschlug, ertönte der Gesang des Windes von den Bergen am Horizont. Das Kind lauschte gespannt und kletterte schnurstracks den langen Hals der schlafenden Gul’Dawa empor und legte sich auf ihren Kopf, um möglichst viel von dem Gesang zu hören. Fasziniert von den mystischen Klängen war es wie verzaubert und wurde von der heiligen Melodie des Landes und dem Schnarchen der Gul’Dawa in den Schlaf gewogen.

Doch das Fehlen des Kindes blieb nicht unbemerkt. Die Mutter des Kinds suchte in allen Zelten. Die Wächter der Karawane durchstreiften die hohen Gräser der umliegenden Steppe und die Späher wurden ausgeschickt, um am nahegelegenen Fluss nach dem Kind zu suchen. Die ganze Nacht suchte die Karawane, doch fand die Erlösung nicht. Keiner hatte das Kind gesehen. Niemand fand auch nur eine Spur. Schluchzend vor Sorge und Panik flehte die Mutter schließlich den Wind selbst um Hilfe an, doch der Wind war der Wind. Er kümmerte sich nicht um die Verzweiflung einer Mutter und sang nur weiter sein ätherisches Lied. So kam es, dass das Kind unentdeckt auf dem Rücken der Gul’Dawa schlief und erst am nächsten Morgen durch die Hitze der Morgensonne geweckt wurde.
Müde Augen öffneten sich und sahen nichts als das Blau des wolkenfreien Himmels und das grelle Licht der blendenden Sonne. Müde rieb das Kind sich die Augen und wurde plötzlich von einer sanften Bewegung daran erinnert, dass es auf dem Kopf der Gul’Dawa eingeschlafen war. Das Kind setzte sich auf und sein Herz sank in seine Magengrube, als es die kleine, weit entfernte Oase unter sich sah. Offenbar war die Gul’Dawa schon vor einiger Zeit aufgewacht und hatte ihren Kopf, und damit auch das Kind, hoch in die Luft gehoben, um Gefahren Ausschau zu halten. Schwindel erfasste das Kind und es blickte verängstigt vom Kopf der Gul’Dawa hinab zur Karawane.

Die Gul’Dawa war irritiert von den plötzlichen Bewegung auf ihrem Kopf und begann sich sich zu schütteln. Das Kind schrie panisch auf, was die Irritation der Lastenbestie nur verstärkte. Die Gul’Dawa streckte ihren langen Hals und das Kind wurde immer höher und höher in die Luft gehoben. Es war, als sollte das Kind bald die Sonne selbst berühren.

Der Wind an diesem Morgen war still und die Karawane hörte die Schreie des Kindes. Die von Tränen verquollenen Augen der Weberin weiteten sich vor Angst, als sie die Situation um ihr Kind begriff. Sie flehte die Bestienzähmer an, die Lastenbestie unter Kontrolle zu bringen, doch sie schüttelten nur den Kopf. Einmal in Bewegung konnte eine Gul’Dawa nicht mehr aufgehalten werden. Eine falsche Bewegung reichte aus und ihr Zorn könnte die ganze Karawane zerstören.

Hoch in der Luft, klammerte sich das Kind panisch am Kopf der Bestie fest und flehte verzweifelt um Hilfe. Schließlich hatte die Gul’Dawa genug von der Störung auf ihrem Kopf und neigte ihren Kopf zur Seite. Die kleinen Finger des Kindes gaben ihr Bestes, doch sie konnten sein Gewicht nicht halten. Die hilflosen Zuschauer schrien auf und das Kind fiel herab.

Für einen Moment stand die Zeit still. Das Kind war verloren. Sie alle wussten es. Ein Fall aus so einer Höhe würde keiner überleben. Der Schock stand ihnen allen ins Gesicht geschrieben. Weit entfernt, auf dem Rücken der Drachenklauen, stimmten die singenden Tempel zu einem Lied an.

Eine Böe schoss durch das Land, über Wald und Wiese, durch Steppe und Wüste raste sie, um die Oase zu erreichen. Das Kind fiel zu Boden und kurz bevor sein Körper auf dem harten Sandboden des Lagers aufkommen konnte, wurde es von einem Paar sanfter Hände aufgefangen. Ein warmer Wind umhüllte es und bremste seinen Fall. Das Kind öffnete seine zusammengekniffenen Augen und fand sich in den Armen eines fremden Jungen in seinem Alter wieder. Sein bläuliches Haar schimmerte im Licht der Morgensonne und sein entwaffnendes Lächeln löste die Angst des Kindes. Der Junge sprach kein Wort, setzte das Kind sanft auf den sandigen Boden des Lagers und verblasste so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Das Kind lachte noch immer, während die Weberin es umarmte. Es blickte zu den Bergen am Horizont. Es hatte endlich einen Freund gefunden. Es nannte ihn Koda.

Die Schwester des Sturms

Hoch auf dem Gipfeln der Drachenklauen standen die Sari, die singenden Tempel. Einst, waren sie bewohnt von den Schwestern der Tempel. Sie waren sowohl Priester, als auch Krieger. Sie pflegten die Tempel und verteidigten sie. Die Schwester des Tempels von Sari’Mava war alt und weise geworden. Ihre langen grauen Haare waren zu einem dicken Zopf zusammengeflochten und mit einer Vielzahl an kupfernen Ringen geschmückt. Ihre Haut zierten Bilder von roten, gelben und blauen Wolken und Windströmungen, die sie alle verbanden. Sie trug ein weites, mehrschichtiges Gewand aus Stoffen in den selben Farben und einen langen Kupferstab, der ihr als Glockenschlägel diente. Trotz ihres Alters war die Schwester noch immer noch athletisch und stark. Mühelos kletterte sie über die verschiedenen Ebenen des Tempels, über moosbedeckten grauen Stein und bunte Mosaike. Der Tempel war seit Jahrzehnten ihr Zuhause und sie kannte jeden Stein, jeden Riss und jede Pflanze in seinem Inneren. Sie pflegte den Tempel, als wäre er ihr eigener Körper, so wie die Schwestern es seit Jahrhunderten taten.

Sari’Mava lag hoch auf den Rücken der Drachenklauen umgeben von kargem Stein und lodernden Kesseln voll heißem Wasser. Der Tempel überblickte die Weiten der Steppe im Westen des Kontinents. Bis zum Horizont erstreckte sich das grüne Meer aus Gras und Sand. Als sie an der Spitze des Tempels ankam, zogen dunkle Wolken im Norden herauf und begannen ihre Reise gen Süden. Der Sturm kam und er war wütend.

Schnell machte die Schwester sich bereit. Der Tempel musste für die Ankunft des Sturms vorbereitet sein. Flink kletterte kletterte sie hinab zur untersten Ebene des Tempels, befestigte die langen roten, blauen und gelben Banner mit dicken Tauen an den steinernen Säulen und aktivierte mit einem großen Hebel die Mechanismen des Tempels. Die Luken des Tempels öffneten sich und der Tempel begann im aufkommenden Wind zu singen. Der Gesang würde die Bewohner der Steppe warnen und ihnen so die Chance geben sich vor dem Sturm zu schützen.
Das Wichtigste war getan. Nun ergriff sie ihren Stab, nahm auf einer kleinen erhöhten Plattform in der Mitte des Tempels Platz und begann zu meditieren.

Als der Sturm über den Tempel hinweg fegte, waren sowohl die Schwester als auch der Tempel bereit für seine Ankunft. Der Wind zischte durch die Luken und der Gesang des Tempels wurde immer lauter und lauter. Die Schwester öffnete die Augen, stand auf und begab sich mit ihrem Stab in eine Verteidigungshaltung. Die Haare in ihrem Nacken begannen sich aufzurichten, als das Zentrum des Sturms den Tempel erreichte. Mit einem lauten Donnern landete etwas auf dem Dach des Tempels. Statisches Knistern und Knacken ertönte aus den Schächten und kam mit jedem verstrichenen Moment näher. Die Tempelschwester erhob sich, atmete tief durch und wartete geduldig auf ihre Herausforderer.

Durch einen krachenden Blitz, wurde der Tempel erhellt und die Sturmbestien fielen über die Tempelschwester her. Eine knisternde Sturmwolke in Form eines Geiers stürzte auf sie herab, öffnete knapp über ihr seine Flügel und versuchte, sie mit seinen Krallen zu fassen. Doch die Tempelschwester war schnell. Sie duckte sich in einer fließenden Drehung, nutzte den Schwung der Bewegung und brachte mit einem lauten Knacken den Kupferstab auf dem Rücken des Vogels nieder. Eine weitere Sturmwolke in Form eines Ca‘Kari sprang aus einem der Gänge und stürzte sich mit seinen messerscharfen Klauen auf sie. Die Raubechse sprang mehrere Meter durch die Luft und die Tempelschwester schaffte es nur knapp, sich unter ihr hindurch zu rollen. Ihr Zopf streifte die Sturmwolke und ein knackender Blitz zuckte über die Haare hinweg und verfing sich schließlich in einem der eingeflochtenen Kupferringe. Runen, sowohl auf den Ringen als auch auf dem Stab, leuchteten inzwischen in einem schwachen blauen Licht. Die Tempelschwester erhob sich aus der Rolle, schwang ihren Stab und klopfte mit seinem unteren Ende auf den Boden unter sich. Die Runen entluden sich mit einem lauten Knall und die Raubechse zerbarst in einem weißen Lichtblitz.

Die beiden Angreifer besiegt, beobachtete die Tempelschwester argwöhnisch ihre Umgebung und begab sich in eine Verteidigungshaltung. Der Sturm war noch nicht vorübergezogen, die Gefahr noch nicht gebannt.
Es knisterte hinter ihr und plötzlich war alles von hellem Licht und nasser Luft umgeben. Ein Wesen aus Wind und Blitzen materialisierte sich direkt vor ihr und hielt ihre Kehle mit einer gepanzerten Hand umschlossen. Das Wesen hatte die Form eines Soldaten angenommen, mitsamt Panzerung und Morgenstern. Der Soldat hob sie in die Luft, sodass ihr eigenes Körpergewicht sich gegen ihre Kehlen wandt. Unter dem Helm des Soldaten bewegten sich strahlende weiße Lichter, die auf eine Reaktion ihrerseits warteten. Der Soldat schien sich jedes Detail ihrer Bewegung einzuprägen. Ihre Finger ließen den Kupferstab zu Boden fallen und er fiel mit einem lauten Klacken auf den Boden. Der Soldat blickte herab, obwohl er wusste, dass die Runen auf dem Stab entladen waren.
Sie nutzte den Moment, streckte beide Arme nach oben und brachte sie mit voller Wucht auf dem Arm des Soldaten nieder. Der Griff um ihren Hals löste sich und sie kam keuchend auf dem Boden auf. Der Soldat schien zufrieden, trat zurück und packte seine Waffe. Ein Donnerschlag erschütterte den Tempel.

Sie musste schreien, um mit ihrer Frage gegen das Tosen des Sturms anzukommen: »Sprich Sturmgeist. Antworte mir, bevor wir kämpfen: Was ist der Grund für eure Wut?«
Ohne zu zögern, antwortete er. Seine Stimme starr und kalt: »Ein Krieg tobt am großen Fluss. Ein belangloser Streit. Die Bewohner dieser Lande haben vergessen, wem sie ihr Leben verdanken. Vergessen, wer unter ihrem Streit am meisten leidet. Es muss enden.«
»Und dieser Sturm soll die Lösung sein?«, die Schwester hob ihren Stab auf und begab sich wieder in eine Kampfhaltung.
Er ließ sie gewähren und sie sah sowohl Ehrfurcht als auch Freude in seinem Gesicht, als er verkündete: »Dieser Sturm wird den Streit für immer beenden! Niemand wird dort mehr Streiten können und die Mutter wird endlich ruhen!«
Das Ende ihres Stabes schepperte gegen seinen Helm, noch bevor seine Worte vollständig ausgesprochen waren. Er taumelte zur Seite, fasste sich und schwang seinen Morgenstern in ihre Richtung. Doch die Tempelschwester war bereits fort. Sie kletterte flink von Plattform zu Plattform zurück hinauf zur obersten Kammer des Tempels. Die Form des Soldaten verschwand. Die Luft um sie herum knisterte, als das Wesen ihr folgte, doch sie war nun darauf gefasst und wich seinen Angriffen mit großen Sprüngen, Rollen oder präventiven Schlägen mit ihrem Stab aus.

Als sie die oberste Kammer erreichten, war die Schwester außer Atem. Schweiß rann ihr übers Gesicht, aber dennoch grinste sie, als ihr Widersacher wieder die Form eines Soldaten annahm. Er senkte seine Waffe, als er erkannte, wo sie beide angekommen waren. Eine gigantische kupferne Glocke hing über ihren Köpfen und das Tau, welches den Mechanismus der Glocke in Gang setzte, lag fest in den Händen der Tempelschwester von Sari’Mava. Sie rief ihm zu: »Ein Sturm sollte sich nicht um die Belange der Sterblichen kümmern. Ein Sturm tobt und wütet, ohne Sinn und Ziel. Ihr seid keine Vollstrecker!«
Sie umschloss das dicke Tau mit ihren Händen, sprang von der Plattform und schwang sich hinab in den unteren Bereich des Tempels. Der Mechanismus ratterte, der erste Klang der Glocke ertönte und der Soldat zerbarst. Endlich antwortete der Tempel auf dem Sturm und sein eigenes Donnern ertönte. Kurze Zeit später antworteten auch die anderen Tempel auf den Rücken der Bergkette mit ihrem eigenen Geläut. Kein Klang glich dem anderen, doch sie alle hatten dieselbe Nachricht an den Sturm: »Geh! Verschwinde! Und komm nicht zurück!«.

Und als Tempra, die Mutter aller Stürme das Donnern unter sich hörte, wie konnte sie da anders als ihnen zumindest für eine Weile folge zu leisten?

Das Spiel des Händlers

Den Freund und den Sturm kennt ihr ja nun. Doch wer ist dann der dritte? Der dritte ist der reisende Wind. Ein Wanderer und ein Wandler, dem immerzu Änderungen und Neuigkeiten folgten. Weder Freund noch Feind, war er einfach ein fester Teil des Lebens in der Steppe. Die folgende Geschichte ist die Erzählung eines einfachen Händlers, der unwissend Teil eines historischen Moments wurde.

In einer dunklen, windigen Nacht betrat ein Händler nach einem langen Reisetag eine Karawanserei am westlichsten Rande Inuras und wollte sich nur ein wenig von der leckeren Fleischbrühe nehmen, als er einen Fremden an einem der Tische sah. Der Fremde war jung und doch war er grau und seine grünen Augen waren düster und schienen trotzdem wie Sterne im Schein der Kerzen. Er hatte ein Brett Drachenschach vor sich aufgebaut und deutete dem Händler, sich zu ihm zu setzen.
Die Neugier trumpfte über die Müdigkeit und der Händler setzte sich. Der Fremde lächelte und sprach mit einem fremden Akzent: » Ich grüße euch, oh Händler. Ein kühner Wind hat uns heute hier zusammengeführt. Ihr seid sicher müde, doch würde ich gerne mehr über das Land und seine Bewohner erfahren. Als Händler seid ihr doch sicher weit gereist und könnt mir so einige Geschichten erzählen, richtig?«
Der Händler war von der Stimme des Reisenden betört. Ihr Klang umspielte seine Sinne und er konnte nicht anders als zu nicken. Der Fremde fuhr fort: »Gut. Was haltet ihr von einem Spiel, während wir Geschichten tauschen?«
Wieder war er von den Worten gebannt und nickte. »Gut. Ihr könnt beginnen.«, lautete die Antwort. Diesmal blieb der Bann aus und der Händler fragte: »Zuallererst möchte ich wissen, mit wem ich hier spiele. Wie heißt ihr, oh Fremder?«
Diesmal war es der Fremde, der nickte und er sprach: »Man nennt mich …

*Unvollständige Ausgabe. Der Rest der Geschichte ist sauber aus dem Buch geschnitten. Eine Notiz am Ende des Buches liest: Anpassungen im Sinne des Gesetzes der Zwölf. Durchgeführt von Scribus Feltisia, Catena Lucis.

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